Interview: So beeinflussen Finanzmärkte die Realwirtschaft

Dr. Stephan Schulmeister lebt in Wien, wo er seit vielen Jahren zu den Zusammenhängen zwischen Finanzmärkten und Realwirtschaft forscht. In unserem Gespräch steigen wir beim Thema Trends ein. Siehe dazu auch den Blogbeitrag zur Wechselwirkung zwischen Technischer Analyse und Aktienkursen.

Viele Menschen vermuten, dass die Kurse an den Märkten rational widerspiegeln, was sich in der Wirtschaft tut. Mit anderen Worten: Wenn Unternehmen höhere Gewinne machen und sich die Aussichten verbessern, steigen die Kurse (und umgekehrt).

Das muss aber nicht immer so sein. Die Kausalität kann sich umkehren. Die Finanzmärkte wurden zur freien Preisbildung geschaffen, können sich aber zeitweilig entkoppeln und dadurch ihrerseits die Wirtschaft beeinflussen. Nicht einzelne Aktien oder Unternehmen (Mikro-Bereich) sind dafür verantwortlich, sondern ganze Asset-Klassen bzw. der Finanzmarkt an sich (Makro-Bereich). Das kann gefährliche Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben, wie Stephan Schulmeister erklärt.

 

Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Knüpfen wir zunächst beim Thema Trends an. Wie entstehen diese eigentlich?

Schulmeister: Wir können einen Bullenmarkt mit Bergwandern vergleichen. Auf dem Weg nach oben geht es zwischendurch sowohl auf- als auch abwärts. Es gibt also zwei Möglichkeiten, zum Gipfel zu kommen: Entweder die Kursschübe nach oben sind steiler als die Gegenbewegungen, oder sie dauern länger. Ich habe diese Frage schon vor vielen Jahren anhand von Währungs- und Rohstoffmärkten untersucht. Das Ergebnis: Die Aufwärtstrends dauern länger und werden so zum prägenden Faktor eines Bullenmarktes. Genau das ist auch die Erklärung dafür, warum sich Trends mithilfe der Technischen Analyse gut handeln lassen.

 

Haben Sie auch eine Erklärung dafür, warum die Trends irgendwann drehen?

Schulmeister: Durchaus. Vor allem bei Währungen ist der Effekt prägnant. Die realwirtschaftlichen Effekte einer starken, langen Auf- oder Abwertung müssen den Trend früher oder später drehen. Denn es gibt viele Kanäle, über die Währungen mit realwirtschaftlichen Transaktionen verknüpft sind. Allerdings ist dieser Zusammenhang am Aktienmarkt viel schwächer. Deswegen können sich Aktienkurse über längere Zeit von der Realwirtschaft entkoppeln und ein Eigenleben entwickeln. Das heißt, dass Trends hier meist deutlich stärker und länger sind. Das ist gut für Trader und Investoren, aber schlecht für den eigentlichen Zweck des Marktes, fundamental faire Preise zu bestimmen.

 

Sie sind einer der wenigen Ökonomen, die technische Analyse nicht für Quatsch halten und darin ein mögliches Instrument für profitables Trading sehen. Wer sind dann die Verlierer am Markt?

Schulmeister: Ich glaube, dass man den Markt grundsätzlich in die Gruppe der Profis (Institutionelle) und der Amateure (alle anderen) unterteilen muss, und dass hier sicherlich die Amateure insgesamt verlieren. Zwar kann es unter den Amateuren eine kleine Untergruppe geben, die sehr profitabel ist. Insgesamt macht die Masse in dieser Gruppe aber typische verhaltensbasierte Fehler und produziert damit Verluste. Grundsätzlich geht es im Trading ja um die Interaktion von Emotionen und Rationalität. Es ist ein ständiges Wechselspiel. Unerfahrene Trader handeln häufig emotional, was sich mit Instrumenten der technischen Analyse systematisch ausnutzen lässt. Der ganze Ansatz ist letztlich dazu da, zu objektivieren und nicht selbst auch diese Fehler zu begehen. Deshalb kann technische Analyse eine große Hilfe für Trader sein.

 

Warum ist der Ansatz dann nach wie vor als Hokuspokus verschrien?

Schulmeister: Das Hauptproblem ist sicherlich, dass technische Analyse einfach nicht ins Weltbild der Mainstream-Theorien passt. Dort basieren die meisten Modelle nach wie vor auf dem stets rationalen Homo Oeconomicus. Diese Annahme ist in der Praxis unhaltbar. Denn die Realität sieht ganz anders aus: Der Mensch ist ein emotionales, soziales Wesen. Das kann man unmöglich einfach außen vor lassen.

 

Die Modelle tun das aber. Was sind die Konsequenzen?

Schulmeister: Die Ökonomen mit ihren alten Modellen sitzen nach wie vor in den entscheidenden Positionen zur Beratung von Politik und Wirtschaft. Gleichzeitig weiß man nicht genau, wie mit unvorhergesehenen Situationen und dem ständigen Wandel an den Märkten umzugehen ist. Die Modelle sehen das alles überhaupt nicht vor. Damit sind Zentralbanken und Wirtschaftspolitik letztlich Gefangene ihres eigenen Denkens. Die Wirtschaftswissenschaft hat sich verlaufen. Die Zentralbanken sind den Märkten untertan und stehen mit dem Rücken zur Wand. Keine nachhaltigen Aussichten also.

 

Was glauben Sie, wie effizient sind die Märkte wirklich?

Schulmeister: Wenn es darum geht, dass die Kurse den tatsächlichen fundamentalen Wert widerspiegeln sollten, nicht gerade effizient. Das lässt sich auch gut begründen. Denn wenn es in Märkten, wo es sehr hohe Liquidität und enorme Volumina im kurzfristigen Trading gibt, dennoch zu eklatanten Bullen- und Bärenmärkten kommt, dann bedeutet das doch ganz klar: Die Akteure führen den Kurs nicht hin zum „fairen“ fundamentalen Wert. Zwar endet der ganze Spuk früher oder später, wenn der Kurs viel zu weit läuft, aber dann überschießen die Preise oft in die andere Richtung.

 

Attraktor Stephan Schulmeister Übervolatilität Überschießen Gleichgewicht

Das Schema veranschaulicht, wie die Kurse volatil um ihren fairen Wert (den Attraktor) schwanken, ihn aber nie dauerhaft erreichen. Zwar wirken bei starken Übertreibungen auch Gegenkräfte wie Value Investing, die den Attraktor wie einen Magneten erscheinen lassen. Aber bei dessen Erreichen schießen die Kurse in die Gegenrichtung über, als würde der Attraktor plötzlich abstoßend statt anziehend wirken. Quelle: Stephan Schulmeister

 

 

Könnte ein Kursrutsch oder Crash zur eigentlichen Ursache für eine Rezession werden, die so vielleicht sonst nie passiert wäre?

Schulmeister: Natürlich. Vor allem negative Vermögenspreisänderungen haben starke Auswirkungen auf den Konsum. Das gilt ganz besonders in den USA, wo ein viel höherer Anteil der Bevölkerung am Aktienmarkt investiert ist. Noch wichtiger aber sind die Auswirkungen auf die Investitionen der Unternehmen. Diese gingen nach dem Crash im Jahr 2008 stark zurück und haben sich bis heute nicht richtig erholt. Starke Schwankungen an den Märkten bedeuten auch, dass die Firmen weniger Planungssicherheit haben. Genau deshalb haben wir immer noch diesen Bremsklotz bei den Investitionen. Das ist ein echtes Grundproblem, das die Märkte mitverursacht haben.

 

Gilt das Ganze auch im positiven Fall, also als Katalysator in einem Bullenmarkt?

Schulmeister: Leider kaum. Das Problem ist oft, dass viele Menschen dem Markt nach einem oder zwei Crashs wie in den Jahren 2002 und 2008 nicht mehr vertrauen. Sie schätzen den Kursgewinn als vorübergehend ein oder sind gar nicht erst investiert. Deshalb wirkt sich der starke Kursanstieg der letzten Jahre kaum auf den Konsum aus. Stattdessen profitieren nur einige Marktteilnehmer. Und zwar genau die, die ohnehin schon genug haben.

 

Die Märkte sind also nicht mehr die Lösung, sondern werden selbst zum Problem?

Schulmeister: Eigentlich ist es die Aufgabe der Märkte, Unternehmen zu finanzieren, Kapitalströme zu koordinieren und faire Preise zu schaffen. Diese Funktionen erfüllen sie heute oberflächlich betrachtet immer noch. Aber in Wahrheit haben sie sich zu „höheren Wesen“ entwickelt, die mehr oder weniger die Kontrolle übernommen haben. Die Märkte helfen der Realwirtschaft nicht mehr, sie schaden ihr.

 

Wie steht es aus Ihrer Sicht um Moral und Ethik im Trading?

Schulmeister: Nicht so gut. Ich habe länger darüber nachgedacht, einen passenden Vergleich zu finden. Stellen Sie sich ein Unternehmen in einer positiven Konkurrenzsituation vor. Es möchte aus Eigennutz einen Gewinn erzielen, aber schafft dabei in der Regel förderliche Nebeneffekte wie die Beschäftigung der Mitarbeiter, Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten und einen guten Draht zu den Kunden. Man nimmt (auch aus Eigennutz) Rücksicht aufeinander. Konkurrenz durch andere Firmen ist in diesem Fall gesamtwirtschaftlich eine gute Sache. Zudem profitieren die Kunden, denn es ist ein Gütertausch zum beiderseitigen Vorteil. Im Trading gibt es das alles nicht. Das einzige, was hier zählt, ist, möglichst cleverer oder schneller zu sein als die anderen. Man kann daraus ableiten, dass je mehr die anderen verlieren, desto besser. Es entsteht also nicht nur kein Mehrwert durch reines Trading, sondern auch noch eine permanent negative Konkurrenzsituation und eine ganz andere Definition von Eigennutz, nämlich ohne Rücksicht auf die anderen.

 

Das sollte zum Nachdenken anregen. Vielen Dank für das Interview!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert