Viele Anleger haben Schwierigkeiten damit, die teils extrem unterschiedlichen Bewertungen verschiedener Aktien nachzuvollziehen. Diese lassen sich erklären, indem die entscheidenden Werttreiber in zwei Komponenten unterteilt werden:
● dauerhafter Wert des aktuellen Zustands (Steady State)
● zukünftig erwarteter Wertzuwachs
Erklärung der Unterschiede
In „The Big Book of Trends & Thematic Investing“ schreibt Robeco, dass der Steady State auf bereits bestehenden Unternehmensstrukturen basiert. Diese ermöglichen dauerhaft einen gewissen Erfolgsbeitrag bzw. Gewinn, der rechnerisch „für immer“ angenommen werden kann. Um das zu bewerten, verwendet Robeco den Kehrwert der geschätzten Eigenkapitalkosten von acht Prozent, was ein KGV von 12,5 ergibt (1 / 0,08).
Die hohen Bewertungsunterschiede lassen sich erst durch die zweite Komponente erklären, den zukünftig erwarteten Wertzuwachs. Dieser besteht aus drei fundamentalen Faktoren, die davon abhängen, in welcher Phase seines Lebenszyklus sich ein Unternehmen befindet: (1) Differenz zwischen Kapitalkosten und Investitionsrenditen, (2) relative Größe profitabler Investitionsmöglichkeiten, und (3) Dauer des Wettbewerbsvorteils.
Die fünf wichtigsten Buchstaben
Entscheidend ist die unter (1) genannte, im Unternehmen erzielte Investitionsrendite. Die besten Firmen schaffen es, über einen längeren Zeitraum viel zusätzliches Kapital zu sehr hohen Renditen einzusetzen. Dafür ist vor allem der „Return On Incremental Invested Capital“ (ROIIC) relevant: Die Kennzahl zeigt, welche Renditen das Unternehmen mit jedem zusätzlich investierten Euro oder Dollar aktuell und in Zukunft erzielen kann und welcher Anteil der Gewinne reinvestiert wird.
Doch es gibt ein Problem: Außerordentlich hohe Investitionsrenditen sind nicht von Dauer. Die Kapitalrenditen bzw. der ROIIC nehmen im Lauf der Zeit ab. Gründe dafür sind Wettbewerb, Reifungsprozesse, Sättigungstendenzen sowie Disruption durch Fortschritt und Entwicklung sowie neue Unternehmen und Geschäftsstrategien. Die Wettbewerbsvorteile von Unternehmen sind also zeitlich begrenzt und drohen, fortlaufend zu erodieren. Damit schrumpft auch der Wert des in Zukunft erwarteten Wertzuwachses – doch genau davon hängt der größte Teil der Bewertung von Growth-Aktien ab.
Kapitalismus pur
Der anfängliche Erfolg eines innovativen Produkts sät damit oft bereits den Kern seines eigenen Niedergangs. Früher oder später kommen immer mehr Wettbewerber auf den Markt und imitieren anfangs revolutionäre Produkte und Dienstleistungen. Aus diesem Grund ist es äußerst selten, dass Unternehmen der Konkurrenz dauerhaft voraus sind und ihren Wettbewerbsvorteil aufrecht erhalten können. Meist schmelzen die Gewinnmargen dahin, während sich die Verbraucher angesichts der immer besseren Auswahl- und Vergleichsmöglichkeiten zunehmend am Preis orientieren.
Der bekannte US-Professor Bruce Greenwald verwendete dazu ein anschauliches Beispiel, das fiktive Unternehmen „Top Toaster“. Dessen anfangs hohe Investitionsrenditen nach Entwicklung eines innovativen Geräts sinken allmählich, während immer mehr Konkurrenten auftauchen, und nähern sich den Kapitalkosten. In der Folge sind die hohen Bewertungen auf Basis des zukünftig erwarteten Wertzuwachses nicht mehr haltbar, sodass die Aktie nur noch auf Basis ihres Steady State bewertet wird und einen Großteil ihres Wertes verliert.
Um es auf den Punkt zu bringen, sagte Greenwald treffend:
Langfristig ist alles ein Toaster.
Dieses Beispiel ist natürlich extrem vereinfacht, aber beschreibt letztlich die Zukunft von vielen Produkten und Dienstleistungen. Manchmal ist diese Realität nah und manchmal ist sie fern. Es ist eine Art Fluch, der potenziell über jedem Unternehmen hängen kann, egal wie innovativ es heute erscheinen mag.
Ausnahmen bestätigen die Regel
Durch fortlaufende Innovation können Wettbewerbsvorteile allerdings sehr lange aufrecht erhalten werden. Dazu müssen Unternehmen die Fähigkeit besitzen, kontinuierlich an ihren Prozessen zu arbeiten und innovativ zu bleiben. Gute Beispiele dafür sind Microsoft oder Apple.
Bruce Greenwald behauptete zwar schon im Jahr 2013, dass Apple eine Zukunft als „Toaster“ bevorstehe – aber fügte zum Glück noch hinzu, dass es damit auch länger dauern könnte. Ganze neun Jahre später hat das Unternehmen seinen Wettbewerbsvorteil weiterhin behauptet, sodass das iPhone (noch) nicht zum modernen Toaster degradiert wurde. Tatsächlich kann es sogar ein großer Fehler sein, einen potenziellen „Toaster-Markt“ zu früh abzuschreiben, wie einst Yahoo im Kampf der Suchmaschinen gegen Google erfahren musste. [2]
Für die Verbraucher sind der ständige Kampf um die Vorherrschaft und der damit verbundene technische Fortschritt jedenfalls eine gute Sache: Noch nie konnten wir so perfekte Toaster (und Smartphones) kaufen wie heute.
Fazit
Anleger sollten an den sprichwörtlichen Toaster denken, wenn es ihnen in den Fingern juckt, (zu) hoch bewertete Wachstumsaktien zu kaufen. Das gilt auch dann, wenn diese ein bahnbrechendes Produkt auf den Markt gebracht haben, dessen innovative Technologie eine goldene Zukunft verheißt. Ich möchte damit nicht sagen, dass mit Toastern kein Geld zu verdienen war oder ist. Doch den Status einer wachstumsstarken und hoch bewerteten Technologieaktie würden man „Top Toaster“ wohl kaum zusprechen.
Quellen:
[1] Robeco (2020), The Big Book of Trends and Thematic Investing
[2] Schrage, M. (2007), The Myth of Commoditization
Sehr schöner Artikel, der einige wichtige Eckpunkte bei der Unternehmensbewertung anspricht.