Beauty Contest: So wird an den Märkten antizipiert

Was hat ein Schönheitswettbewerb mit der Börse zu tun? Auf den ersten Blick überhaupt nichts. Doch schon im Jahr 1936 entdeckte der Ökonom John Maynard Keynes eine erstaunliche Parallele, was das Verhalten der Akteure angeht.

Unser Bewusstsein versetzt uns in die Lage, zu antizipieren. Wir beobachten, was geschieht und können vorausahnen, wie sich andere Marktteilnehmer wahrscheinlich verhalten werden. Daraus lässt sich ein Vorteil ziehen, indem man das erwartete Verhalten der Masse in die eigene Entscheidung einkalkuliert.

Diesen Effekt beschrieb Keynes anschaulich anhand eines Schönheitswettbewerbs, mit dem er erklärte, wie Antizipation funktioniert. Der Vergleich ist so treffend, dass „Beauty Contest“ heute als Fachbegriff an den Finanzmärkten verwendet wird.

 

Was denken die anderen?

Stellen wir uns folgenden Schönheitswettbewerb vor. Angenommen, es gibt 100 Kandidaten, aus denen wir als Jury-Mitglied die sechs schönsten Personen auswählen sollen. Es ist ein Preis für denjenigen ausgeschrieben, dessen Gesamtauswahl dem späteren Ergebnis – das auf Basis aller Stimmen ermittelt wird – am nächsten kommt.

Das bedeutet: Man sollte nicht unbedingt die Personen auswählen, die uns persönlich am besten gefallen, sondern diejenigen, die unserer Einschätzung nach am wahrscheinlichsten von den meisten anderen ausgewählt werden. Man muss also antizipieren, was die anderen Jury-Mitglieder denken und das in der eigenen Entscheidung berücksichtigen.

Eine erstaunliche Konsequenz dessen ist, dass das Ergebnis nicht unbedingt dem entsprechen muss, was der Durchschnitt wirklich für die Schönsten hält. Denn wenn die meisten Jury-Mitglieder glauben, dass aufgrund spezieller Faktoren bestimmte Personen von vielen anderen als die schönsten ausgewählt werden, so gewinnen diese am Ende auch – selbst dann, wenn die meisten Jury-Mitglieder diese selbst in Wahrheit nicht für die Schönsten hielten.

Wir müssen bei unserer Einschätzung also zwei Stufen unterscheiden:

● Wen wir selbst für die Schönsten halten

● Von wem wir glauben, dass die meisten anderen sie für die Schönsten halten

 

Die 3. Stufe

Doch das ist noch nicht alles. Es gibt eine dritte Stufe. Es ist nämlich denkbar, dass alle Teilnehmer genauso weit mitdenken. Dass jeder reflektiert und antizipiert, was die Jury im Durchschnitt als beste Auswahl erachtet. Auf Basis dessen könnte man zu dem Schluss kommen, dass diese Wahl „zu offensichtlich“ wäre und sich die meisten Jury-Mitglieder deshalb bewusst für andere Kandidaten entscheiden könnten, die vielleicht nicht gerade perfekt schön, aber dafür facettenreich und interessant wirken. Man antizipiert die Antizipation der anderen.

We have reached the third degree where we devote our intelligences to anticipating what average opinion expects the average opinion to be. And there are some, I believe, who practice the fourth, fifth and higher degrees. [1, S. 156]

 

Dazu ein Beispiel: Ein Jury-Mitglied findet persönlich die Kandidaten 1-6 am schönsten (Stufe 1), geht aber davon aus, dass die meisten anderen wohl Personen mit kleiner, schmaler Nase wählen und entscheidet sich deshalb für die Kandidaten 7-12 (Stufe 2). Die Krux ist hier, dass die Kandidaten 7-12 vielleicht gewinnen, obwohl das gar nicht das Schönheitsideal der meisten Jury-Mitglieder war – aber die meisten dachten, dass die anderen die Gesichter mit diesem Merkmal am schönsten finden und auswählen würden.

Stufe 3 nimmt dieses Ergebnis vorweg. Alle denken, dass die anderen ebenso antizipieren – zum Beispiel, weil schon beim letzten Mal Kandidaten mit kleiner, schmaler Nase gewonnen haben. Deshalb werden vielleicht gerade nicht diese Gesichter häufig gewählt. Stattdessen könnten die meisten Jury-Mitglieder diesmal die Kandidaten 13-18 mit dem klassischen Schönheitsmerkmal besonders symmetrischer Gesichter wählen (Stufe 3).

Die Objektivität geht in diesem Spiel zunehmend verloren. Es kommt am Ende darauf an, wie viele Stimmen auf welcher Stufe der Antizipation basieren. Und das lässt sich im Vorhinein kaum abschätzen, sodass bei ausreichend „schöner“ Vorauswahl letztlich jeder gewinnen könnte.

 

Antizipieren an der Börse

Keynes zufolge kann es auch bei der Aktienauswahl zu Antizipationsschleifen kommen. Das Prinzip funktioniert ganz ähnlich: Wir müssen bei Entscheidungen berücksichtigen, was der Durchschnitt der anderen Marktteilnehmer auf Basis einer bestimmten Entwicklung erwartet. Auf diese Erwartung sollte das eigene Handeln abgestimmt sein. Und das kann durchaus im Widerspruch zur eigentlichen Entwicklung und unserer isolierten Einschätzung stehen.

Angenommen, man möchte aus 100 Aktien die „attraktivsten“ sechs für ein Portfolio auswählen. Wie beim Beauty Contest könnte das Denken nun auf verschiedenen Stufen erfolgen:

● Stufe 1: Man kauft die Aktien 1-6, die nach den eigenen, persönlichen Kriterien am attraktivsten sind.

● Stufe 2: Wenn wir davon ausgehen, dass die Mehrheit der Marktteilnehmer in der aktuellen Marktphase auf wachstumsstarke Aktien setzt, sollten wir das auch tun – und entscheiden uns deshalb für die Growth-Aktien 7-12. Allerdings müssen das nicht wirklich die attraktivsten Aktien sein. Es ist denkbar, dass viele diese Titel nur deshalb wählen, weil sie davon ausgehen, dass die meisten anderen sie auch kaufen.

● Stufe 3: Angenommen, die meisten Marktteilnehmer denken bereits auf Stufe 2. Es ist also offensichtlich, dass man Growth-Aktien kaufen sollte. Wenn dies nun viele andere ebenso antizipieren, könnten sie zu dem Schluss kommen, dass diese Titel aufgrund der inzwischen hohen Bewertung nicht mehr die attraktivsten Aktien sind. Deshalb könnte sich die Mehrheit dazu entscheiden, die zuvor vernachlässigten, anhand fundamentaler Daten unterbewerteten Titel auszuwählen. Auf dieser Grundlage entscheiden wir uns, gerade nicht die Growth-Aktien 7-12, sondern die Value-Aktien 13-18 zu kaufen.

 

Dieses Beispiel lässt erkennen, dass die psychologisch-strategische Ebene an der Börse eine große Bedeutung haben kann. Niemand weiß im Vorfeld sicher, auf welcher Antizipationsstufe das Ergebnis zustande kommt und wann die Wahrnehmung der Masse kippt. Es entsteht ein chaotisches System, in dem bestimmte Gesetzmäßigkeiten und Trends auftreten, die sich aber immer wieder gegenseitig ablösen und mitunter genau ins Gegenteil umkehren. Kurzum, eine ziemlich gute Beschreibung für die komplexe und kaum prognostizierbare Realität an den Märkten.

Antizipationsschleifen sind ein Grund, warum technische Handelsstrategien, fundamentale Analysen oder Sentiment funktionieren können. Und sie sind ebenfalls der Grund, weshalb sie manchmal genau nicht funktionieren. Theoretisch sind sogar noch weitere Stufen denkbar: Zu antizipieren, dass Marktteilnehmer versuchen werden, die auf Stufe 3 erwarteten Ineffizienzen auszunutzen (Stufe 4). Auch das hatte Keynes schon erkannt.

 

Fazit

Antizipationsschleifen sind nur möglich, weil es keine klaren und von allen Teilnehmern nachweislich anerkannten Regeln gibt, denen jeder folgt – weder zur Einschätzung der Schönheit von Personen, noch zur Attraktivität von Aktien. Zwar gibt es grobe Kriterien, mit denen sich die Extreme unterscheiden lassen, aber bei den Feinheiten herrscht ein hoher Grad an Subjektivität. Das liegt daran, dass jeder Mensch andere Präferenzen hat, die zum Teil mit der individuellen (verzerrten) Wahrnehmung zusammenhängen. Gäbe es ganz klare Naturgesetze wie in der Physik, wären diese Effekte unmöglich.

Die Börse ist ein komplexes System, in dem fortlaufend neu über die Kurse und Bewertungen verhandelt wird. Die erfolgreichsten Marktteilnehmer versuchen zu antizipieren, was andere denken, um sich so einen Vorteil zu verschaffen. Es lohnt sich deshalb, eine Stufe höher – und manchmal eine Stufe niedriger – zu denken und zu berücksichtigen, was die meisten anderen tun (oder nicht tun) könnten. Das war letztlich auch der Rat von Keynes zum Thema Börsenerfolg:

Successful investing is anticipating the anticipations of others. [2, S. 105]

 

Quellen:

[1] Keynes, J. M. (1936), The General Theory of Employment, Interest and Money, Neuauflage 2007, Palgrave Macmillan

[2] Bergman, G. (2006), Isms: From Autoeroticism to Zoroastrianism, Adams Media (Zitatnachweis laut Wikiquote)

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