Geht es nach (neo)klassischen ökonomischen Modellen, könnte alles ganz einfach sein. Hier ist die Wirtschaft als System zu verstehen, das nach einem Gleichgewicht sucht und dieses erhalten möchte. Doch die Sache hat einen Haken: In der Praxis treten hin und wieder große Krisen auf, die nicht so recht ins Bild passen.
Eine alte Hypothese
Schon in den 1960er Jahren erforschte Hyman Minsky (1919-1996) das aus seiner Sicht inhärent instabile Finanzsystem. 1986 veröffentlichte er das Buch „Stabilizing an Unstable Economy“. Später fasste er seine Theorie im Paper „The Financial Instability Hypothesis“ zusammen. Dabei ging er von drei Gruppen von Firmen mit folgenden Charakteristika aus:
● Solide Akteure, die temporär Schulden für große Investitionen aufnehmen, aber in absehbarer Zeit alle Zahlungsverpflichtungen durch ihre Cashflows erfüllen
● Spekulative Unternehmen, die zumindest alle Zinsen durch Cashflows bedienen, aber daraus nicht ihre Schulden begleichen können; sie müssen fällig werdende Kredite durch Aufnahme neuer Schulden verlängern
● Ponzi-Teilnehmer, deren Cashflows aus dem operativen Geschäft nicht einmal ausreichen, um die Zinsen zu zahlen; sie hoffen, dass der Wert ihrer Assets steigt, um nicht weitere Kredite aufnehmen oder Notverkäufe durchführen zu müssen
Entscheidend ist nun, welche Gruppe in der Wirtschaft dominiert. Sind es die gesunden Unternehmen, kann durchaus ein Gleichgewicht entstehen. Doch je höher der Anteil der Spekulations- und Ponzi-Gruppen wird, desto eher verstärken sich die Ungleichgewichte.
Genau das passiert laut Minsky: Anfangs stabile Systeme werden mit der Zeit instabiler. Langanhaltende, gute Zeiten führen dazu, dass der Anteil der Gruppen 2 und 3 zunimmt. Prognosen werden optimistischer, Risiken unterschätzt und Kredithebel erhöht. Es kommt zu einem Boom, die Euphorie wächst. Steigen dann die Zinsen, wird die Finanzierung von Firmen der Gruppen 2 und 3 schwieriger. Einige müssen Assets verkaufen, um ihre Verpflichtungen zu bedienen. Erste Pleiten treten auf. Dann kippt die Stimmung. Banken werden vorsichtiger, eine Welle von Notverkäufen und Abwertungen setzt ein. In Zweitrundeneffekten werden auch solide Unternehmen erfasst. Schließlich kann es zu einer schweren Wirtschaftskrise kommen.
Allerdings stand diese Theorie mit eingebauter Instabilität im Kontrast zum Mainstream der (neo)klassischen Gleichgewichtsmodelle. Minsky galt als Außenseiter. Sein Ansatz fand wenig Anklang in einer Welt, in der die Märkte als effizient galten, wenn man ihnen nur freien Lauf gewährt. Marktteilnehmer, so nahm man an, sind schließlich rational und können alle Risiken angemessen beurteilen. Das deckte sich bestens mit den Interessen der einflussreichen Gruppen. Regulierung, so das Credo damals, sei ohnehin nur schädlich und ein Feind der freien Marktkräfte, die am Ende schon zum Guten führen würden.
Der Minsky-Moment
Doch Instabilität ist eine charakteristische Eigenschaft des Wirtschafts- und Finanzsystems. Sie ergibt sich aus der Wahrnehmung der Marktteilnehmer: In guten Zeiten lohnt es sich, immer höhere Risiken einzugehen, ohne Konsequenzen zu spüren. Daraus entsteht eine gefühlte Stabilität. In der Folge nimmt die Risikobereitschaft weiter zu. Früher oder später entstehen Übertreibungen, die dann durch Krisen bereinigt werden.
Gute Zeiten (gefühlter) wirtschaftlicher Stabilität führen also früher oder später zu Exzessen. Sei es durch einen langen Bullenmarkt, niedrige Zinsen, hohe Kreditvergabe oder eine Kombination von allem. Das System pendelt zwischen Boom zu Bust, ohne langfristig ein stabiles Gleichgewicht zu erreichen.
Am Ende sollte Minsky recht behalten. Der „Minsky-Moment“ war die Finanzkrise 2008. Angeheizt durch niedrige Zinsen wurden über Jahre immer höhere Risiken eingegangen, die den Boom befeuerten und dann zum Bust führten. Der Staat musste einspringen, um die extremsten Folgen des Ungleichgewichts abzufedern.
Zwar ist das Modell eine grobe Vereinfachung, um Krisen an den Märkten (und darüber hinaus) zu erklären. Doch der ruinöse Zyklus hat sich in der Geschichte schon mehrfach wiederholt. Nur muss jedes Mal erst wieder genug Zeit vergehen, bis die Exzesse verblassen und ausreichend viele neue Akteure am Markt sind, die den Zyklus noch nicht selbst erlebt haben. Dann kann das Ganze wieder von Neuem beginnen.
Physics is a science where knowledge is cumulative. Finance is cyclical; you make your money in the industry and then you retire and grill tomatoes. Then everybody else has to relearn everything you knew. (Zoltan Pozsar)
Fazit
Das Wirtschafts- und Finanzsystem ist anfällig für Spekulationswellen, die in Krisen enden.
Quellen:
[1] Minsky, H. P. (1986), Stabilizing an Unstable Economy, Yale University Press
[2] Minsky, H. P. (1992), The Financial Instability Hypothesis, Levy Economics Institute Working Paper Nr. 74