Warum funktioniert Momentum an der Börse?

Momentum Effekt Anomalie Überreaktion Unterreaktion
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Wir schreiben das Jahr 2008. Damals ging es an den Märkten ziemlich turbulent zu. Ich war als Praktikant bei der Deutschen Bank und habe jeden Tag die Aktienkurse verfolgt. Dabei fielen mir zwei Werte besonders auf: Volkswagen und Hypo Real Estate. Die beiden Aktien wiesen starke, gegensätzliche Kursbewegungen auf. Volkswagen war mit Abstand die stärkste und Hypo Real Estate mit Abstand die schwächste Aktie im DAX.

Doch dann wurde es erst richtig spannend. Denn auch nach diesen starken Kursbewegungen blieben die relativen Trends der beiden Aktien noch eine ganze Weile intakt. Volkswagen stieg weiter massiv an und Hypo Real Estate fiel auf nahezu null. Aber was bedeutet das Ganze? War es reiner Zufall oder steckt vielleicht ein Muster dahinter, dass gerade die starken Aktien oft weiter zulegen und die schwachen weiter verlieren? [1]

 

Der Momentum-Effekt

Tatsächlich existiert nachweislich ein solches Muster. Dieses ist als Momentum-Effekt bekannt und besagt, dass die stärksten und schwächsten Aktien ihre Bewegungen relativ zum Markt für eine bestimmte Zeit fortsetzen. Auf den ersten Blick erscheint das unerwartet. Viele Menschen denken intuitiv, dass eine Aktie, die bereits über Monate stärker als der Markt gestiegen (gefallen) ist, nun eher wieder fallen (steigen) müsste. Das kann natürlich im Einzelfall passieren. Im Durchschnitt ist die Tendenz der größten Winner- und Loser-Aktien relativ zum Markt jedoch prozyklisch. Mit anderen Worten, Momentum-Aktien haben auf Sicht mehrerer Monate eine gewisse Trendkontinuität.

Das direkte Ausnutzen der Momentum-Anomalie über Long- und Short-Positionen ist allerdings nicht ganz einfach und kann vor allem auf der Short-Seite auch ziemlich riskant sein. Anleger können das Wissen um den Momentum-Effekt aber zumindest passiv nutzen, indem sie sich nicht entgegen einer dynamisch verlaufenden Bewegung positionieren.

Hinweis: Momentum ist ein Begriff, der vielfältig verwendet wird und manchmal etwas Verwirrung verursacht. Deshalb habe ich hier einen Grundlagenartikel geschrieben, der durch den Begriffsdschungel führt.

 

Warum funktioniert Momentum?

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit diesem Thema. Die inzwischen sehr umfangreiche wissenschaftliche Literatur hat verschiedene Erklärungsansätze hervorgebracht, die sich in zwei große Kategorien unterteilen lassen:

● Rationale bzw. strukturelle Erklärungen

● verhaltenswissenschaftliche Modelle

 

Rationale Erklärungen

Rationale bzw. risikobasierte Erklärungen zielen darauf ab, dass die Momentum-Renditen lediglich eine Kompensation für damit verbundene Risiken sind. Beispielsweise sind verbesserte Wachstumsaussichten für Winner-Aktien auch mit höheren Risiken verbunden, was das tatsächliche Erreichen dieser Erwartungen angeht. Dass entsprechende Risiken bei Momentum-Aktien nachweislich eine Rolle spielen, zeigt sich in verschiedenen Studien. So steht der Momentum-Effekt im Zusammenhang mit erhöhten Volatilitäten, besonderen Tail-Risiken und erheblichen Drawdowns (Momentum Crashs), die eine zusätzliche Prämie rechtfertigen. Darüber hinaus sind in der Praxis vor allem Transaktionskosten, Liquiditätsaspekte und Marktfriktionen relevant, die in der Theorie gerne vernachlässigt werden. Mit all diesen Einschränkungen lässt sich die Profitabilität des Momentum-Effekts durchaus relativieren.

Die beste strukturelle Erklärung für Momentum ist die Architektur der Märkte selbst. Die überwiegende Zahl der heutigen Indizes ist nach Marktkapitalisierung gewichtet, was für sich genommen bereits eine Momentum-Strategie darstellt. Denn Aktien, die stark gestiegen (gefallen) sind, nehmen im Index eine höhere (niedrigere) Gewichtung ein. Strömt dann neues Geld in die Märkte, werden diese Aktien besonders stark (weniger stark) gekauft. Entscheidend ist dabei, dass viele Anleger ihr Geld in Fonds stecken und die Fondsmanager dann, da ihre Leistung relativ zu einer Benchmark gemessen wird und sie ihren Job nicht riskieren möchten, indexnah investieren. Damit werden unternehmensspezifische Faktoren nicht vollständig berücksichtigt [2]. Oder anders ausgedrückt: Die verbreitete Anwendung von Benchmarks kann ein Limit to Arbitrage darstellen [3] und erklären, warum der Momentum-Effekt seit seiner Entdeckung nicht schon längst verschwunden ist. Vereinfacht ausgedrückt gibt es also einen starken Kapitalfluss, der den Momentum-Effekt mitverursacht.

 

Verhaltensbasierte Erklärungen

Aber auch die Verhaltenswissenschaft hat gute Erklärungen für Momentum. Die Grundidee ist eine initiale Unterreaktion, die sich später in eine Überreaktion verwandelt [4, 5]. Dieser Modelle basieren auf einer Verzerrung in der Informationsverarbeitung. Entwickelt sich zum Beispiel ein Unternehmen positiv, wird das am Markt nicht sofort vollständig eingepreist. Erst im Lauf der Zeit erkennen immer mehr Akteure den positiven Trend und springen auf. Bleibt die fundamentale Entwicklung gut, werden die Marktteilnehmer zunehmend optimistisch. Sie schrauben ihre Erwartungen weiter nach oben und gehen davon aus, dass sich die positive Entwicklung immer weiter so fortsetzt (Extrapolation). Durch diese Renditejagd wird ein Feedback-Mechanismus ausgelöst, der dazu führt, dass sich die Preise zunehmend vom fundamental gerechtfertigten Niveau entfernen (Übertreibungsphase). Diese kann dadurch verstärkt werden, dass allein wegen der guten Kursentwicklung weitere Anleger auf den Trend aufmerksam werden und einsteigen, um nichts zu verpassen (Herdeneffekt). Werden die Bewertungen irgendwann zu extrem, kommt es zum langfristigen Reversal des Momentums.

Für das Muster von Unter- und Überreaktion sprechen bekannte Verhaltenseffekte wie begrenzte Aufmerksamkeit, begrenzte Kapazität zur Informationsverarbeitung und das konservative Anpassen von Ertragsschätzungen. Letzteres ist beispielsweise dadurch dokumentiert, dass Marktteilnehmer auf die Bekanntgabe neuer Quartalszahlen systematisch unterreagieren (Post Earnings Announcement Drift). Auch die typische Tendenz vieler Privatanleger, Gewinne mitzunehmen und Verluste laufen zu lassen (Dispositionseffekt) wirkt als Gegenwind zur schnelleren Anpassung der Kurse auf fundamental angemessene Niveaus.

 

Ausblick

Unter Forschern ist nach wie vor umstritten, welche Erklärung für den Momentum-Effekt tatsächlich zutrifft. Für die rationale Seite spricht die starke Korrelationsstruktur von Momentum-Aktien untereinander, während die verhaltensbasierten Erklärungen durch emotionales und teils irrationales Handeln von Anlegern in der Praxis gut dokumentiert sind. Eine aktuelle Studie rückt die Erklärung durch eine Unterreaktion auf kleine, fortlaufende Nachrichten in den Vordergrund (Frog in the Pan Theorie).

Vielleicht ist gerade die insgesamt recht hohe Bandbreite an möglichen Erklärungen der Grund für die historisch starke Evidenz des Effekts, da möglicherwiese mehrere der genannten Faktoren zutreffen. Das Interessante dabei: Fast alle Erklärungsansätze basieren auf dauerhaften Marktstrukturen und Verhaltenseffekten. Weder die grundlegende Architektur und Funktionsweise der Märkte noch das teils irrationale Verhalten von uns Menschen werden sich auf absehbare Zeit stark verändern. Deswegen wird uns der Momentum-Effekt wohl auch in Zukunft erhalten bleiben.

 

Fazit

Es gibt eine Reihe rationaler sowie verhaltensbasierter Erklärungen für den Momentum-Effekt.

 

Hinweise und Quellen:

[1] Natürlich gab es (im Nachhinein) gute Erklärungen für die Kursbewegungen. Diese basierten auf strukturellen Marktverwerfungen im Rahmen der versuchten Volkswagen-Übernahme durch Porsche beziehungsweise auf der deutlichen fundamentalen Schieflage bei der Hypo Real Estate. Im Rahmen des klassischen Momentum-Effekts werden aber nur Kursveränderungen betrachtet.

[2] Gutierrez, R. C. / Prinsky, C. A. (2007), Momentum, Reversal, and the Trading Behaviors of Institutions, Journal of Financial Markets, Vol 10, Nr. 1, S. 48–75

[3] Baker, M. / Bradley, B. / Wurgler, J. (2011), Benchmarks as Limits to Arbitrage: Understanding the Low-Volatility Anomaly, Financial Analysts Journal, Vol 67, Nr. 1, S. 40–54

[4] Barberis, N. / Shleifer, A. / Vishny, R. (1998), A model of investor sentiment, Journal of Financial Economics Vol 49, Nr. 3, S. 307–343

[5] Hong, H. / Stein, J. C. (1999), A Unified Theory of Underreaction, Momentum Trading and Overreaction in Asset Markets, Journal of Finance, Vol 54, Nr. 6, S. 2143–2184

[6] Goyal, A. / Jegadeesh, N. / Subrahmanyam, A. (2022), What Explains Momentum? A Perspective From International Data

4 thoughts on “Warum funktioniert Momentum an der Börse?”

  1. Marko, wie immer sehr lehrreiche und valide Information zum Momentum. Danke! Frage: welche Rolle spielen die üblichen Zeiteinheiten zB 6 Monate/3 Monate/1 Monat/1 Woche/1 Tag/60 Min/10 Min/etc für die Aussagekraft des berechneten Momentums für diese jeweiligen Zeiträume? Gibt es da Wertigkeiten oder Prioritäten? Ist das „langfristige“ Momentum aussagekräftiger als ein „kurzfristiges“ Momentum? Du bemerkst ich versuche für mich etwas praktisches zu basteln. Wäre schön wenn du nochmals etwas dazu schreiben könntest. Herzlichen Gruß aus Erlangen.

    1. Ich würde über 3-6 Monate ranken. Bei kürzeren Rankings ist es wahrscheinlicher, dass ein Reversal auftritt. Auf Basis weniger Tage bzw. sogar intraday ist es eine ganz andere Geschichte, das kann ich leider nicht beurteilen. Alle Details zur genauen Umsetzung im Anschluss ans Ranking muss man sich dann selbst basteln, da bin ich selbst auch noch am Tüfteln

  2. Hallo Marko,

    vielen Dank für die Infos – insbesondere den Erklärungsansatz über die Gewichtung der Indizes kannte ich nicht.
    Gibt es eigentlich Studien, die die unterschiedlichen Berechnungsmöglichkeiten für Momentum bzw. relative Stärke vergleichen? Ich kenne das Ranking üblicherweise nach dem Kursanstieg über 3, 6 und 12 Monate. Wobei hierbei ja nicht der zeitliche Verlauf berücksichtigt wird, z.B. kann ja eine Aktie innerhalb von 12 Mon. von 10 EUR auf 30 EUR gestiegen und wieder auf 20 EUR gefallen sein. D.h. sie befindet sich evtl. in einem Abwärtstrend, liegt aber im Ranking weit vorne.
    Diesen Nachteil müsste m.E. die Berechnung nach Levy (Kurs/26 Wochen Moving Average) oder das Verhältnis zweier gleitender Durchschnitte (z.B. MA 50 Tage/MA 200 Tage) vermeiden. Ist Dir hierzu vielleicht Literatur bekannt?

    Viele Grüße,
    Klaus

    1. Hi Klaus, danke dir. Es gibt noch ein paar andere Erklärungsansätze, aber die im Artikel genannten sind meiner Einschätzung nach die überzeugendsten. Wie du schon richtig scheibst wird klassisch über 3, 6 oder 12 Monate gerankt (und anschließend über 3, 6 oder 12 Monate gehalten, um die Renditen zu berechnen). Um Kandidaten ohne große Rücksetzer zu bekommen könntest du die Aktien dann nochmal nach Standardabweichung ranken. Tendenziell sollten solche Low Vola Momentum Aktien auf der Long-Seite tatsächlich besser abschneiden. Was die Berechnungen auf Basis von MAs angeht, so wird das heute kaum noch gemacht. Aber es stimmt, Levy hatte damals den Ansatz mit MA(26) und MA(4) Wochen. Man könnte auch nach Steigung der MAs ranken. Ich denke, dass sich der genaue Ansatz am Ende nicht viel nimmt, es geht letztlich immer darum, die starken proyzklischen Werte auf mittelfristigem Zeithorizont zu erwischen 😉

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