Reflexivität an der Börse

Wir können die Gesetze der Physik nutzen, um Flugzeuge zu bauen. Aber die Erfindung des Flugzeugs hat die Gesetze der Aerodynamik nicht verändert. [1]

 

Diese Aussage wird wohl niemand anzweifeln. Das liegt daran, dass in den Naturwissenschaften (fast) kein Platz für subjektive Aspekte ist.

Ganz anders an der Börse. Hier ist das Denken ein Teil dessen, worauf es sich bezieht. Die Anleger sind sowohl Marktbeobachter als auch Handelnde. Ihre Einschätzungen werden davon beeinflusst, welche Nachrichten sie wahrnehmen, wie sich die Märkte entwickeln und welche Stimmung herrscht. Das wirkt sich auf ihr Verhalten aus: Anleger passen im Lauf der Zeit ihre Positionen an und nehmen damit wiederum Einfluss auf die Kurse. Deshalb sind die Märkte kein statisches Konstrukt, sondern ein komplexes, dynamisches System mit vielen beweglichen Teilen und Rückkopplungseffekten.

Einer der erfolgreichsten Hedgefonds-Manager aller Zeiten, George Soros, beschäftigte sich schon vor Jahrzehnten ausgiebig mit diesem Thema.

 

Verzerrte Realität

Soros zufolge stimmen in Situationen mit denkenden Teilnehmern deren Ansichten über die Welt nie perfekt mit dem tatsächlichen Stand der Dinge überein. Wir haben zwar ein umfangreiches Wissen und viele Theorien, aber unsere Perspektive ist immer mehr oder weniger verzerrt oder inkonsistent. Das liegt daran, dass die Welt zu komplex ist, als dass wir sie vollständig verstehen können. Soros nennt es das Prinzip der Fehlbarkeit. Inspiriert durch seinen Mentor Karl Popper stellte er damit die Annahmen der klassischen Ökonomie infrage, die von rationalen Erwartungen und effizienten Märkten ausgeht.

Untrennbar mit Fehlbarkeit sieht Soros das Prinzip der Reflexivität verbunden: Die verzerrten Einschätzungen können Handlungen auslösen, durch die sich wiederum die eingangs betrachtete Situation verändert. Die Beziehung zwischen dem Denken der Akteure und der durch sie beeinflussten Realität ist also zirkulär.

 

Reflexivität System Rückkopplung Rückkopplungseffekt
Die Grafik zeigt den zirkulären Zusammenhang zwischen kognitiver und manipulativer Funktion, die beide der menschlichen Fehlbarkeit unterliegen. Hinzu kommt eine dritte Dimension, die hier nicht dargestellt ist: Die Interaktion der unzähligen Akteure an der Börse untereinander. Quelle: Soros, G. (2014), Fallibility, Reflexivity, and the Human Uncertainty Principle, Journal of Economic Methodology

 

Kognitives vs. manipulatives Denken

Analytisch lässt sich der Effekt kaum erfassen. Viele Wissenschaftler, die mathematisch schlüssige Modelle nach dem Vorbild der Physik verwenden, haben ihn deshalb ignoriert. Das sieht Soros wiederum kritisch. Denn letztlich ist die Unsicherheit, die mit Fehlbarkeit und Reflexivität einhergeht, ein Teil der menschlichen Natur. Das macht sie zum alltäglichen Phänomen an den Märkten.

Soros unterscheidet das Denken der Marktteilnehmer in zwei Bereiche:

1) Kognitive Funktion: Anleger sind passive Beobachter; die Ursache-Wirkungs-Beziehung erfolgt ausgehend von der realen Welt hin zum Denken der Akteure

2) Manipulative Funktion: Anleger spielen eine aktive Rolle, bei der die Beziehung umgekehrt vom Denken hin zur realen Welt wirkt

 

Die eine Funktion besteht darin, die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Die andere ist, Einfluss auf die Welt zu nehmen und die eigenen Interessen durchzusetzen. Sind beide Funktionen zur gleichen Zeit aktiv, können sie sich gegenseitig beeinflussen. Dadurch entsteht der zirkuläre Bezug, bei dem das eine vom anderen abhängt.

 

Keine endgültige Wahrheit

Würde es nur die kognitive Funktion geben, könnten die Märkte einen Zustand erreichen, der mit den Tatsachen übereinstimmt. Dann wäre es wie in den Naturwissenschaften. Hier gibt es keine Reflexivität, da klare Gesetze herrschen. Ob die Menschen glauben, dass die Erde rund ist oder nicht, ändert nichts daran, dass es so ist. Die manipulative Funktion hat keinen Einfluss.

An den Märkten gibt es aber keine endgültige Wahrheit, was etwa die richtige Bewertung von Aktien angeht. Die Fakten sind hier nicht wirklich unabhängig. Sie können das Ergebnis der manipulativen Funktion sein. Manche Anleger kaufen zum Beispiel, wenn eine Aktie steigt. Findet das in der Breite statt, können sich Kursanstiege durch Momentum verstärken, was dann wieder auf die fundamentale Situation zurückwirken kann: Die Lage des Unternehmens wird positiver gesehen, talentierte Mitarbeiter werden angezogen und die Kapitalkosten nehmen ab. Dadurch wird wiederum eine Rückkopplung möglich, wenn die bessere Lage zu Kursanstiegen führt und so weiter.

Die Börse entwickelt sich also nicht unbedingt von Fakt zu Fakt, sondern kann auch von den Fakten über die Wahrnehmung der Anleger und deren Handeln zurück auf die Fakten wirken. Wir können also nie genau sagen, ob reale Ereignisse die Überzeugungen der Anleger beeinflussen oder ob es andersherum ist.

 

Fazit

Positive Rückkopplungen zwischen Erwartungen und Fundamentaldaten können dazu führen, dass Kurse in Trends verlaufen, die ein Eigenleben entwickeln.

 

Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst ausführlicher in AnlegerPlus.

 

Quelle: Soros, G. (2014), Fallibility, Reflexivity, and the Human Uncertainty Principle, Journal of Economic Methodology

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